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Neue archäologische Forschungen in Assur

drone photo

Der Ort der Ausgrabungen von 2023 in der Neustadt von Assur, mit dem weißen Grabungshaus und der Zikkurat des Aššur-Tempels im Hintergrund. Drohnenaufnahme von Jens Rohde.

Im April 2022 bewilligte das irakische State Board of Antiquities and Heritage ein mit Geldern des Leibniz-Preises gefördertes Forschungsprojekt mit dem Titel „Ausgrabungen und geophysikalische Untersuchungen in Assur sowie Restaurierung des Andrae-Hauses“, das von Karen Radner und Prof. Dr. F. Janoscha Kreppner (WWU Münster) gemeinsam geleitet wird. Der Arbeitsplan besteht aus drei Teilen:

  1. Restaurierung des Grabungshauses von Walter Andrae, das Ende 2016 durch die ISIS-Besetzung und die Eroberung durch irakische Staatstruppen schwer beschädigt wurde;
  2. Geophysikalische Prospektion von Assur mittels Magnetometer und elektrischer Widerstandstomographie (ERT);
  3. Archäologische Ausgrabungen mit Schwerpunkt auf der südlichen Ausdehnung der Stadt („Neustadt“).

(1) Restaurierung des von Walter Andrae errichteten Grabungshauses:

Im Rahmen der Ausgrabungen der Deutschen Orient-Gesellschaft in Assur unter der Leitung von Walter Andrae wurde am 14. August 1903 mit dem Bau des Hauses begonnen, der ein Jahr andauerte. Andrae baute den nördlichen Flügel des Hauses, einschließlich des Großen Saals. Als die deutsche Mission zu Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 abziehen musste, übernahm die osmanische Polizeibehörde das Gebäude als ihren örtlichen Sitz (qishla). Dieser Nutzung unterlag es bis 1920, als es zum Verwaltungszentrum des Bezirks Sherqat umgewidmet wurde. Nachdem die Bezirksverwaltung 1929 schließlich ins Stadtzentrum verlegt worden war, stand das Andrae-Haus leer und verfiel allmählich, wobei die meisten Decken und Wände einstürzten.

Im Jahr 1978 initiierte das irakische State Board of Antiquities and Heritage (SBAH) ein Projekt zur Wiederaufnahme der Forschungen in Assur. Das Andrae-Haus wurde renoviert und durch den Bau eines Südflügels vergrößert, um als Stützpunkt für alle in Assur tätigen lokalen und ausländischen Missionen dienen zu können. Es wurde ferner als Hauptsitz des Sherqat SBAH-Büros genutzt bis 2008 ein neues Gebäude außerhalb der Stadtmauer und in der Nähe des Eingangs zur archäologischen Stätte errichtet wurde.

Im Jahr 2015 besetzte eine ISIS-Terrorzelle das Andrae-Haus und nutzte es als Militärkaserne, um in der Region Sherqat zu operieren. Als die irakischen Streitkräfte Ende 2016 angriffen, räumten die Terroristen alles Wertvolle aus dem Gebäude, einschließlich aller Möbel, Türen, Fenster, Stromkabel und Wasserleitungen, und beschmierten die Wände mit beleidigenden und obszönen Graffiti. Bei der Rückeroberung des Hauses wurde das Dach des Großen Saals schwer beschädigt und eine der Palmen im Innenhof zerstört.

Der Rohbau stand bis September 2022 leer, als die Restaurierung des Andrae-Hauses in enger Zusammenarbeit mit dem Sherqat SBAH-Büro unter der Leitung von Salim Abdallah und mit Hilfe der Restaurierungsexperten Kamal Rasheed Raheem und Akam Omar Ahmed Al-Qaradaghi eingeleitet wurde. Nachdem die Arbeiten im Januar 2023 abgeschlossen waren, diente das Andrae-Haus als Basis für neue LMU-WWU-Ausgrabungen in der ersten Kampagne im Februar und März 2023.

Für die Finanzierung jener Photovoltaikanlage, die seit August 2023 das Grabungshaus mit Solarstrom versorgt, danken wir dem Bayerischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst, vertreten durch Herrn Staatsminister Markus Blume, und der Österreichischen Botschaft in Bagdad, vertreten durch deren Geschäftsträger ad interim, Herrn Gesandten Dr. Andrea Nasi, für die ebenso rasche wie tatkräftige Hilfe.

andrae house

Das Andrae-Haus vor und nach der Renovierung. Fotos von Akam Omar Ahmed Al-Qaradaghi.

(2) Geophysikalische Prospektion von Assur

Ein Team unter der Leitung von Prof. Dr. Jörg Fassbinder (LMU München) hat die geophysikalische Prospektion von Assur wieder aufgenommen, die 1989 in Vorbereitung auf die 1990 unter der Leitung von Prof. Dr. Barthel Hrouda (LMU München / Bayerische Akademie der Wissenschaften) durchgeführten Ausgrabungen, die wegen des Ausbruchs des Ersten Golfkriegs vorzeitig beendet wurden, begonnen wurde. Die geophysikalischen Arbeiten wurden von Dr. Helmut Becker und Fassbinder (beide Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, München) durchgeführt, die zwei Hektar im Wohngebiet von Assur mit Magnetometern untersuchten.

Im Februar 2023 setzte Fassbinder diese Arbeit fort, indem er mit Unterstützung von Jean-Jacques Herr, Lena Ruider und Marco Wolf ein gezieltes Programm von Magnetometer- und ERT-Prospektionen (Electrical Resistivity Tomography) startete.

geophysik

Jörg Fassbinder und Marco Wolf während der Magnetometerprospektion, im Hintergrund (links) ist das Andrae-Haus zu sehen. Foto: Karen Radner

(3) Archäologische Ausgrabungen in der südlichen Stadterweiterung („Neustadt“)

Ziel der neuen Ausgrabungen in Assur ist es, die Siedlungsgeschichte der südlichen Stadterweiterung von Assur (der „Neustadt“) mit Hilfe moderner archäologischer Technik, Dokumentations- und Beprobungsmethoden zu erforschen. Bislang sind die Ausgrabungen in der Neustadt relativ begrenzt: Walter Andrae arbeitete hier während seines Aufenthalts in Assur von 1903 bis 1914 in den Suchschnitten 11 bis 16, weitere Arbeiten wurden 1989 und 2002 von der SBAH durchgeführt, die weitgehend unpubliziert blieben. Wir haben eine Stelle in der Neustadt ausgemacht, gelegen auf einer Hügelkuppe in der Nähe des Tigris, nahe der südlichen Stadtmauer, die für neue Feldarbeiten als besonders geeignet erscheint und unmittelbar an den Bereich „Neustadt 4“ der SBAH-Ausgrabung von 2002 angrenzt. Dort legte das irakische Team unter parthischer Architektur und parthischen Gräbern neuassyrische Wohnarchitektur frei, so dass die Tiefe der einzelnen Besiedlungsschichten besonders gut beurteilt werden konnte. Die Ergebnisse dieser Arbeit sind zwar noch nicht veröffentlicht, aber vorläufige Berichte und einige Teile der Felddokumentation wurden uns freundlicherweise von SBAH Sherqat zur Verfügung gestellt, mit freundlicher Genehmigung von Salim Abdullah.

Während der ersten Feldkampagne waren Salim Abdullah, Amr Mohammad Jasim und Sakhar Mohammad Agag die Vertreter der SBAH. Weitere SBAH-Mitarbeiter waren Omar Leith al-Lawi und Muthanah Ahmed Issa. Die Feldsaison war in vier Phasen unterteilt, die sich zeitlich überschnitten:

In einem ersten Schritt wurde das Vermessungsnetz im Koordinatenreferenzsystem WGS 84/UTM Zone 38 Nord für die Ausgrabungen und die geophysikalische Prospektion eingerichtet und im Gelände markiert. Zu diesem Zweck traf Janoscha Kreppner am 8. Februar 2023 zusammen mit Cajetan Geiger, Jan Heiler, Jean-Jacques Herr, Jana Richter, Jens Rohde, Andrea Squitieri, Kamal Rasheed Raheem und Akam Omar Ahmed Al-Qaradaghi in Sherqat ein.

In der zweiten Phase kamen vom 13. Februar bis zum 25. Februar die geophysikalische Prospektion und die Entnahme von Sedimentkernen als Aufgaben zur Vorbereitung der Ausgrabungen hinzu. Die geophysikalische Prospektion wurde vom Süden der Neustadt in Richtung Norden durchgeführt und erreichte die südlichen Teile der Innenstadt. Darüber hinaus wurden acht Sedimentkerne aus dem für die neuen Ausgrabungen ausgewählten Bereich im Westen bis zu einer Tiefe von maximal 5 m entnommen. Zu diesem Zweck traf Karen Radner zusammen mit Mark Altaweel, Jörg Fassbinder, Christoph Forster, Lena Ruider und Marco Wolf am 12. Februar 2023 in Sherqat ein.

Die dritte Etappe begann am 18. Februar und dauerte bis zum 23. März. Es wurden archäologische Ausgrabungen und die damit verbundene Bearbeitung der Keramik und Kleinfunde durchgeführt. Ellen Coster, Veronica Hinterhuber, Susanne Weber und Tarik Willis stießen am 17. Februar 2023 zum Team, und etwas später, am 9. März 2023, folgte Hero Salih Ahmed. Dem Team gehörten 15 Arbeiter aus Sherqat und Sdera an, darunter Mahjub Mohammad Jar als erfahrener Ausgräber („Sherqati“).

Die vierte Etappe dauerte vom 25. bis 30. März 2023. In dieser Zeit wurde die Dokumentation abgeschlossen und die Übergabe der von der SBAH für den Irak ausgewählten Proben und Funde vorbereitet. Das Team verließ den Irak am 31. März 2023.

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Das Assur-Team 2023 auf dem Dach des Andrae-Hauses. Drohnenfoto von Jens Rohde.

Im Zuge der Ausgrabungen 2023 wurde eine Gesamtfläche von 120 qm untersucht. Unsere Arbeiten erlaubten die Ermittlung einer stratigraphischen Sequenz von der Geländeoberfläche (162,97 m ü. NN) bis zu unberührten Bodenschichten (159,08 m ü. NN). Zunächst wurde, ausgehend von der Grabung von 2002, ein 2 m breiter und 20 m langer Testschnitt in Richtung Westen angelegt. An dessen westliches Ende wurde ein 10 m langer und 2 m breiter Testschnitt nach Norden angeschlossen. Ein geplanter Graben im Süden wurde nach der Entdeckung eines großen parthischen Kammergrabes nicht geöffnet. Stattdessen wurde der Ost-West-Schnitt erweitert, um das 46 m² große Grab vollständig freizulegen.

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Das Grabungsareal 2023 und die benachbarten Ausgrabungen der SBAH 2002. Drohnenaufnahme von Jens Rohde.

In der ersten Kampagne konnten bedeutende neue Ergebnisse erzielt werden. Das unberührte Bodenniveau wurde erreicht, so dass der Beginn der Siedlungsgeschichte in der Neustadt Assurs in Zukunft weiter untersucht werden kann. Unmittelbar oberhalb dieses Niveaus wurden Fragmente von karinierten Schalen und Bechern mit länglichem Körper und Nippelbasis gefunden, die sich gut mit denen aus mittelassyrischen Fundstellen im assyrischen Kernland und der syrischen Gazirah vergleichen lassen. Dies deutet darauf hin, dass die südliche Stadterweiterung wahrscheinlich bereits in mittelassyrischer Zeit besiedelt wurde. Puzur-Aššur III. von Assyrien (Mitte des 2. Jahrtausends v. Chr.) behauptet in seinen Inschriften, die Neustadt gegründet zu haben, doch fehlte bisher archäologisches Material aus dieser frühen Zeit. Neben dem keramischen Material wurden drei Ziegelfragmente von Adad-nerari I. von Assyrien (1305-1274 v. Chr.) in sekundärer Verwendung innerhalb der Wände des parthischen Kammergrabes gefunden, von denen zwei mit Sicherheit Ziegeln zugeordnet werden können, die auf den Bau der Kaimauer von Assur verweisen. Die Ausgrabung der ältesten Bauphase, die über diesem Material angetroffen wurde, verspricht neue Einblicke in die Besiedlungsgeschichte von Assur im späten zweiten und frühen ersten Jahrtausend v. Chr.

Die Mauern dieser ersten Besiedlungsphase sowie Grab 5, in dem sich ein glasiertes Miniaturgefäß befand, das einem anderen Stück aus Assur stark ähnelt, das Andrae in einem spätneoassyrischen Grab gefunden hat, sind von einem Fußboden verdeckt, der zu einem Gebäude der zweiten Besiedlungsphase gehört, das wir mit Sicherheit der neuassyrischen Zeit zuweisen können, da die vergesellschaftete Keramik in Ware und Form der Typologie dieser Zeit entspricht. Die weitere Erkundung der zweiten Bauphase verspricht tiefere Einblicke in die Funktion und Organisation der Neustadt in neuassyrischer Zeit.

Dicht unter der Geländeoberfläche wurden Gebäudereste erfasst, die der dritten und jüngsten Besiedlungsphase angehören. Der Boden von Raum 2 wird von der Grube des Grabes 3 durchschnitten, dessen Sarkophag vom Stülpwannen-Typ eine alphabetische Inschrift mit der Jahreszahl 159/158 v. Chr. (= Jahr 153 der Seleukidenzeit) trägt und damit einen absoluten chronologischen Fixpunkt bereitstellt; ein zweiter, in der Nähe gefundener Sarkophag dieser Art war ohne Inschrift. Die weitere Erforschung dieser Phase ist besonders spannend, da ein terminus ante quem 159/158 v. Chr. neue Einblicke in die materielle Kultur und Geschichte Assurs in der kaum bekannten Zeit zwischen der neuassyrischen und parthischen Periode garantiert, die durch die Arbeit von Andrae so anschaulich ans Licht gebracht wurde.

sarcophagus

Der Sarkophag des Stülpwannen-Typs. Ein Teil des Teams zeigt auf die alphabetische Inschrift mit der Datierung. Bild von Ali Saad.

Das Gebäude dieser dritten Besiedlungsphase wurde durch das parthische Kammergewölbe angeschnitten, dessen Gewölbe, Wände und Fußböden bereits in der Antike beschädigt wurden. Es wurden mehr als ein Dutzend Skelette geborgen, die an verschiedenen Stellen im Bauwerk aufgestapelt waren. Die Analyse dieser menschlichen Überreste wird, ebenso wie die der früheren Bestattungen, neue Erkenntnisse über die Identität der Bewohner Assurs im Laufe der Jahrhunderte liefern.

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Die Überreste des gewölbten Kammergrabs. Drohnenfoto von Jens Rohde.

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