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Leben in Ruinen: Erfahrungen mit verlassenen Städten in Babylonien

Dieses von der Gerda Henkel Stiftung im Rahmen des Programms Lost Cities geförderte Projekt mit einer Laufzeit von vier Jahren hatte zum Ziel, anhand der Königsinschriften des Neubabylonischen Reiches (626–539 v. Chr.), der babylonische topographische Texte, Tempellisten sowie späterer Quellen aus der Region, die Entwicklung Babylons von ihrer Zeit als strahlende Weltstadt im 6. Jahrhundert bis in die Zeit der Parther und zum Besuch des Kaisers Trajan zu untersuchen. Dabei sollte die allmähliche Aufgabe von Teilen der Stadt ebenso Gegenstand der Forschung sein wie die Erfahrungen der Menschen, welche in dieser Zeit in der Stadt lebten. Diese Studie hat den Ausgangspunkt für eine weiterführende Untersuchung gebildet, welche die Erfahrungen mit einem Leben in Ruinen und zerstörten Städten zum Gegenstand hatte, wobei jedoch festzuhalten ist, dass dieser Zustand aus babylonischer Perspektive nicht als ungewöhnlich oder (grundsätzlich) negativ wahrgenommen wurde. Die umfangreichen Keilschriftquellen (hauptsächlich in akkadischer Sprache geschrieben), die für diese innovative Forschungsvorhaben herangezogen wurden und die von literarischen und wissenschaftlichen Texten bis hin zu Privatrechtsdokumenten reichen, erlaubten es, die Erfahrungen der Babylonier mit verlassenen Städten und Zerstörung aus drei verschiedenen Perspektiven zu untersuchen:

  • aus philosophischer Perspektive: Ruinen werden als Mahnung für Vergänglichkeit gesehen
  • aus emotionaler Perspektive: der Verlust einer Stadt muss emotional bewältigt werden
  • aus materialistischer Perspektive: zu den praktischen Aspekten des Lebens in einer zerstörten Stadt

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Ruinen Babylons mit dem verlassenen Palast Saddam Husseins. Foto: Karen Radner (November, 2018).

Das Team

Das Team für die Bearbeitung des Projektes Living Among Ruins bestand aus Prof. Dr. Karen Radner (Lehrstuhl für die Alte Geschichte des Nahen und Mittleren Ostens Historisches Seminar, LMU München), Dr. Jamie Novotny (Historisches Seminar, LMU München) und Giulia Lentini (Doktorandin, betreut von Prof. Dr. Radner und Dr. Novotny).

Ziele

Ziel des Projektes, welches von September 2019 bis Oktober 2023 lief, war es, vier einzelne aber inhaltlich verbundene Arbeitspakete abzuschließen: den Abschluss eines Dissertationsvorhabens, die Schaffung von zwei open-access Webseiten, die Fertigstellung eines Buches sowie die Ausweitung der Inhalte auf einer dritten, bereits veröffentlichten Webseite.

Arbeitspaket 1 umfasste das Dissertationsvorhaben von Lentini, welches das gesamte Themenspektrum des Projekts und des Förderprogramms einschloß und das Phänomen der verlassenen Stadt in Babylonien aus philosophischer, emotionaler und materialistischer Perspektive untersuchte. Die Stoßrichtung der Argumentation war dabei insbesondere auf den Aspekt gerichtet, dass die Erfahrungen eines Lebens inmitten von Ruinen von den Babyloniern nicht als ungewöhnlich oder (grundsätzlich) negativ wahrgenommen wurden.

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Ruinen von Uruk, eine der ältesten Städte, in der die frühesten Belege für Keilschrift und womöglich die ältesten Schriftzeugnisse überhaupt gefunden wurden. Foto: Karen Radner (November, 2018).

In Arbeitspaket 2 entstand eine open-access Webseite mit dem Titel Babylonian Topographical Texts online (BTTo), auf der 64 babylonische topographische Texte und 8 Tempellisten in annotierten (mit lexikalischen und grammatischen Anmerkungen versehenen) Editionen (Transliteration und Übersetzungen ins Englische und Deutsche) publiziert wurden. Diese Texte feiern den Status der Städte als bedeutende religiöse Zentren Babyloniens und beinhalten Listen von Kultbauten und weiteren bedeutenden topographischen Besonderheiten. Die Mehrzahl dieser Texte behandelt die Stadt Babylon, doch einige von ihnen haben auch weitere babylonische Städte wie Borsippa, Nippur, Ur und andere zum Thema. Das Kernstück der Webseite bilden die beiden Listen Tintir = Babylon und die kanonische Tempelliste. Bei der Liste Tintir = Babylon handelt es sich um die bedeutendste Keilschriftquelle zur Topographie von Babylon, welche die heiligen Namen von Babylon, seine Tempel und andere herausragende topographische Besonderheiten der Stadt auflistet und welche zum Ziel hatte, die Stadt Babylon als herausragendes religiöses Zentrum Babyloniens zu verherrlichen. Die kanonische Tempelliste, welche mehr als 600 Tempel und deren göttliche Besitzer auflistet, ist von drei Keilschrifttafeln bekannt, welche in der berühmten Bibliothek des assyrischen Königs Assurbanipal (669 - ca. 631 v. Chr.) gefunden wurden. Die Texteditionen werden von einer Reihe von Webseiten ergänzt, welche weiterführende Informationen zu diesen antiken gelehrten Kompositionen anbieten und diese damit für jede/jeden zugänglich machen, die/der an dieser Thematik interessiert ist. Das Ziel der Webseite ist es, zum einen die inzwischen 25 Jahre alte gedruckte Edition dieser Texte zu aktualisieren und zum anderen diese unschätzbaren Quellen für die heute verlorene Topographie Babylons bekannter und leichter verfügbar zu machen. BTTo wird gehostet auf der Plattform des Open Richly Annotated Cuneiform Corpus (Oracc).

In Arbeitspaket 3 wurde die open-access Webseite Babylonian Temples and Monumental Architecture online (BTMAo) erstellt, welche Informationen und Erklärungen zum Thema enthält. Angesichts der Tatsache, dass Wikipedia derzeit keine verlässliche Informationsquelle für die hier genannten Themen darstellt, bietet diese Webseite nun weiterführende Informationen zu den wichtigsten babylonischen Tempeln, Palästen und Stadtmauern des ersten Jahrtausends v. Chr. auch für Studierende, Wissenschaftler aus Nachbarfächern sowie interessierte Laien frei und leicht zugänglich an. Der Aufbau dieser Webseite lehnt sich an die einflussreiche, Oracc-basierte Webseite Ancient Mesopotamian Gods and Goddesses an und ergänzt diese damit ideal. Die wichtigsten Einträge dieser Webseite befassen sich mit den bedeutendsten Bauten Babylons, mit Marduks Tempel Esagil und seinem Tempelturm Etemenanki, den Stadtmauern Emgur-Enlil und Nemetti-Enlil, mit dem sogenannten Südpalast von Nebukadnezzar II., sowie mit zentralen Bauten anderer Städte, darunter Eanna (Tempel der Göttin der Liebe und des Krieges in Uruk), Ebabbar (Tempel des Sonnengottes in Sippar), Ehulhul (Tempel des Mondgottes in Harran) und Ezida (Tempel des Schreibergottes in Borsippa).

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Tonzylinder des berühmten Königs Nebukadnezar II., König von Babylon, die seine Bauaktivitäten in Babylon, Marad und Sippar dokumentieren. Foto: Jamie Novotny (Februar, 2018).

In Arbeitspaket 4 wird die Textedition The Royal Inscriptions of Nebuchadnezzar II (604–562 BC), King of Babylon, Part 1 (Royal Inscriptions of the Neo-Babylonian Empire Volumes 1/1 and 1/2), gemeinsam verfasst von Novotny und Dr. Frauke Weiershäuser (Historisches Seminar, LMU München) in Print- und Digitalfassung publiziert. Der Inhalt dieses Doppelbandes wurde zusätzlich über die Webseite des bereits veröffentlichen Projekts Babylon 7, eines Subprojekts des Münchener open-access Projekts Royal Inscriptions of Babylonia online (RIBo) verfügbar gemacht. RINBE 1/1 und 1/2, der erste und zweite Band des an der LMU München beheimateten Royal Inscriptions of the Neo-Babylonian Empire (RINBE) Projekts, wird 86 akkadische Inschriften von Babylons berühmtestem König Nebukadnezar II. enthalten. Diese Texte wurden auf Lehmziegel, Augensteine und steinerne Vasen aus Babylon sowie auf Tonzylinder und Lehmziegen als den babylonischen Kultzentren Borsippa, Isin, Kisch, Larsa, Marad, Sippar, Ur und Uruk geschrieben (und gestempelt), außerdem auf Augensteine und steinerne Perlen aus Persepolis, der Hauptstadt des persischen Reichs, sowie auf Felsreliefs, die in Felswände im Libanon (Nahr el-Kelb, Shir as-Sanam und Wadi Brissa) gemeißelt wurden. Die meisten dieser Texte, insbesondere jene auf Zylindern, berichten über die Bautätigkeiten Nebukadnezars in Babylonien.

Laufzeit und Förderung

Das Projekt wurde gefördert von der Gerda Henkel Stiftung im Rahmen des Programms „Lost Cities. Wahrnehmung von und Leben mit verlassenen Städten in den Kulturen der Welt“, welches geführt wurde von Prof. Dr. Martin Zimmermann (Historisches Seminar; LMU München), und Prof. Dr. Andreas Beyer (Universität von Basel). Das Projekt lief von Anfang September 2019 bis Ende Oktober 2023.

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